„Kumpel zu sein heißt Mensch zu bleiben“
Die Schließung der letzten Steinkohle-Zechen 2018 bildet eine historische Zäsur – für viele Menschen in den Bergbauregionen, für die deutsche Industriegeschichte und nicht zuletzt für die IG BCE. Portrait eines Bergmanns, der den Wandel erfolgreich bewältigt hat.
Bis zum letzten Tag hat er gewissenhaft seinen Job gemacht, unter Tage malocht, als Steiger an der Dieselkatze. Stempeln, Waschkaue, Einfahren. Der Rhythmus der Bergleute hat das Leben von Mathias Erdmann geprägt – über viele Jahre. Es ist dieser 21. Dezember 2018, an dem ihm erst so richtig aufgeht: „Hömma Mathias, jetzt ist es wirklich soweit: Jetzt ist hier Schicht im Schacht!“
An diesem Tag steht Mathias Erdmann auf einer großen Bühne in der Schachtanlage Franz Haniel in Bottrop – gemeinsam mit sechs anderen Kumpeln, aber auch gemeinsam mit dem Bundespräsidenten, dem Präsidenten der EU-Kommission und vielen anderen Vertretern des öffentlichen Lebens. Das Stück Kohle, das Erdmann und die anderen Bergleute an diesem Tag Frank-Walter Steinmeier übergeben, ist nicht nur das letzte, das in Bottrop zu Tage gefördert wurde. Es ist das letzte überhaupt in Deutschland. Nach 200 Jahren aktiven Steinkohlenbergbaus ist tatsächlich „Schicht im Schacht“. Eine historische Zäsur.
„Die IG BCE hat ihren Teil dazu beigetragen, dass kein Bergmann ins Bergfreie gefallen ist.“
Gewaltiger Anpassungsprozess
Über Jahrzehnte haben die Beschäftigten eine Zechenschließung nach der anderen erlebt, innerhalb von 60 Jahren sind den Bergbauregionen 600.000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Diesen gewaltigen Anpassungsprozess sozialverträglich zu organisieren, den Beschäftigten eine neue Perspektive zu geben, war für die IG BCE und ihre Vorgängerorganisationen stets oberstes Gebot.
„Die IG BCE hat sich um uns gekümmert und ihren Teil dazu beigetragen, dass kein Bergmann ins Bergfreie gefallen ist“, sagt Mathias Erdmann. Der heute 34-Jährige ist der letzte der sieben Kumpel auf der großen Bühne von Franz Haniel, der noch im aktiven Berufsleben steht. Heute ist er Produktionsleiter beim Gase-Spezialisten Air Liquide in Oberhausen, führt ein Team von 50 Kolleginnen und Kollegen. Den Job hat er sich damals selbst gesucht – lange Übergangsfristen bei seinem alten Arbeitgeber RAG boten ihm die nötige Zeit dafür.
Es sind Lösungen wie diese, die Vorbild seien können für die Transformations-Herausforderungen der Zukunft. Mit staatlicher Unterstützung, mit einer durch die Montanmitbestimmung geprägten Bereitschaft zur Kooperation zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaft wurden für die Beschäftigten immer neue Brücken in die Zukunft gebaut. Zechenschließung um Zechenschließung musste personell abgefedert werden. Das forderte vor allem auch den Bergleuten vieles ab: Freischichten, Gehaltseinbußen, immer wieder Umzüge zur nächsten Zeche, die Vermittlung von Arbeit in Arbeit.
Errungenschaften bewahren
Die Größe der Herausforderung hat die Tarifpartner erfinderisch gemacht: Tarifverträge zur Teilzeitarbeit, die frühe Einführung von Langzeitkonten oder auch die Entwicklung der Vier-Tage-Woche zählen zu den Innovationen, die der Steinkohlenbergbau hervorgebracht hat.
Heute ist diese Transformation weitgehend bewältigt, haben Bergleute wie Mathias Erdmann neue Jobs oder sind im Ruhestand. Mit der Schließung der letzten Zechen in Ibbenbüren und Bottrop 2018 mag so mancher den Schlussstrich unter dieses Kapitel gezogen haben. Doch das ist ein Irrglaube. Nicht nur, dass vom Steinkohlenbergbau Ewigkeitsaufgaben wie Grubenwasserhaltung, Poldermaßnahmen und Grundwasserreinigung verbleiben. Es gilt auch die Errungenschaften zu bewahren und weiterzuentwickeln, die die Bergleute in der Vergangenheit erarbeitet haben: gelebte Solidarität, Respekt vor dem Nebenmann, Begegnung auf Augenhöhe.
Die bergmännischen Tugenden sind und bleiben fester Bestandteil der IG BCE und der Menschen in den Kohleregionen. Aus ihnen sind traditionsreiche Veranstaltungsformate wie die Recklinghäuser Tagung oder Initiativen wie „Die gelbe Hand“ erwachsen. Und sie wurden im Jahr der letzten Zechenschließung vielerorts hochgehalten – nicht nur bei der Abschlussveranstaltung selbst, sondern auch bei den vom Projekt „Glückauf Zukunft!“ von IG BCE, RAG-Stiftung, RAG und Evonik organisierten Großevents „Danke, Kumpel!“ oder bei der Festveranstaltung zur Verabschiedung des Steinkohlenbergbaus im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Für die Tugenden der Bergleute müsse die Gesellschaft heute mehr denn je einstehen, forderte der IG-BCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis seinerzeit in seiner Rede: „Dieses Land braucht wieder mehr Kumpelkultur!“
Die Bergleute selbst werden das Ihrige dazu tun. Kumpelkultur bedeute für ihn Teamfähigkeit, Ehrlichkeit und Loyalität, sagt Mathias Erdmann. Darauf lege er auch im neuen Job großen Wert. Das soziale Miteinander sei entscheidend im Berufsleben. „Kumpel zu sein“, fasst es der 34-Jährige zusammen, „bedeutet, Mensch zu bleiben.“