Mitbestimmung braucht ein Update!
Die Unternehmensmitbestimmung hat sich in Deutschland seit Langem bewährt. Trotzdem versuchen viele Unternehmen, sie gezielt auszuhebeln oder zu umgehen. Deshalb hat die IG BCE eine Mitbestimmungsinitiative hierzulande angeschoben und fordert faire Mitbestimmung auch europaweit.
Unternehmerische Mitbestimmung hat sich in Deutschland über viele Jahrzehnte hinweg bewährt. Ihre ältesten Wurzeln reichen bis ins Jahr 1920 zurück, als das Betriebsrätegesetz in Kraft getreten ist. Geregelt ist die Mitbestimmung heute im Montanmitbestimmungsgesetz (MontanMitBG) aus dem Jahr 1951, im Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) aus dem Jahr 1972, im Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG, Ursprungsfassung aus dem Jahr 1976) und im Drittelbeteiligungsgesetz aus dem Jahr 2004.
Aber: Gut jedes dritte Unternehmen in Deutschland unterläuft die paritätische Mitbestimmung, indem es Lücken der Mitbestimmungsgesetze ausnutzt oder diese Gesetze ganz ignoriert. Gleichzeitig sind paritätisch besetzte Aufsichtsräte bis heute keine Gremien, in denen sich Kapital- und Belegschaftsseite auch faktisch auf Augenhöhe begegnen. Das verhindert das Doppelstimmrecht der Aufsichtsratsvorsitzenden.
Mitbestimmungsinitiative angeschoben
Die IG BCE hat deswegen im Jahr 2020 eine Initiative zur Reform des MitbestG gestartet. Ziel ist es, den Strukturwandel in den Unternehmen gleichberechtigt zu gestalten. In den kommenden Jahren stehen unzählige weitreichende Zukunftsentscheidungen in den Betrieben an, die nicht allein von kurzfristigen Kapitalmarktinteressen, sondern von Nachhaltigkeit und Verantwortung für den Standort geprägt sein müssten. Das erreicht man, wenn in den Aufsichtsräten Kapital- und Arbeitnehmer*innenbank auf Augenhöhe um die besten Lösungen ringen können. Entscheidungen über Werksschließungen oder Massenentlassungen sollen in strittigen Fällen nicht mehr durch das Doppelstimmrecht der Aufsichtsratsvorsitzenden, sondern in einem Schlichtungsverfahren fallen.
Das Reformkonzept der IG BCE sieht im Detail vor, dass bei weitreichenden Unternehmensentscheidungen wie etwa Rechtsformänderungen, Sitzverlagerungen ins Ausland, Unternehmensverkäufen, Mergern, Übernahmen, Werksschließungen oder Massenentlassungen im Falle eines Konflikts zwischen Kapital- und Arbeitnehmer*innenbank im Aufsichtsrat eine neutrale Person zur Schlichtung eingesetzt wird, auf die sich das Gremium zuvor mit Zwei-Drittel-Mehrheit geeinigt hat. Der Einigungsvorschlag dieser Schlichtungsperson hat in angemessener Frist zu erfolgen. Er kann nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Aufsichtsrat abgelehnt werden.
Initiative der IG BCE hat Eingang in die Wahlprogramme mehrerer Parteien gefunden.
Die IG BCE hat die Initiative nicht nur an allen relevanten politischen Ebenen bis hin zur Bundesregierung platziert, sondern auch in der Öffentlichkeit verankert. Gleichzeitig wurde die Forderung beim DGB eingebracht und Gegenstand einer Mitbestimmungskampagne der Hans-Böckler-Stiftung (HBS). Die Initiative ist auf breites Interesse in der Öffentlichkeit gestoßen und hat inzwischen Eingang in die politischen Programme mehrerer Parteien zur Bundestagswahl 2021 gefunden.
Ein Orientierungspunkt ist dabei das MontanMitbG, das 2021 seinen 70. Geburtstag gefeiert hat, heute aber nur noch auf sehr wenige Unternehmen in Deutschland Anwendung findet. Angesichts der aktuellen Herausforderungen im Kontext der Transformation, der Digitalisierung und vor dem Hintergrund der Auswirkungen der Coronakrise ist diese Initiative nötiger denn je.
Ausbau Unternehmensmitbestimmung in Europa
Anfang 2020 hat die IG BCE darüber hinaus gemeinsam mit dem DGB die Anforderungen an den deutschen Gesetzgeber zusätzlich in Form einer europäischen Rahmenrichtlinie zur Unterrichtung, Anhörung und Unternehmensmitbestimmung in Europa adressiert.
Kern der Forderungen: Mitbestimmung muss auch europäisch angegangen werden, denn in den europäischen Gremien werden die gesellschaftsrechtlichen Anforderungen formuliert. Unternehmen, die europäische Richtlinien nutzen, um ihre Unternehmensverfassung zu ändern, müssen verpflichtet werden, Verhandlungen zu einem europäischen Gremium zu führen. Darüber hinaus sollten europäische Schwellenwerte fixiert werden. Diese sollten auch dann greifen, wenn die Mitbestimmung vorher „eingefroren“ war. Der Schwellenwert würde somit Neuverhandlungen über die Mitbestimmung unter Einbeziehung der Gewerkschaften auslösen.
Auf EU-Ebene hat die IG BCE diese Forderungen im Europäischen Gewerkschaftsbund und bei IndusriAll Europe platziert. Das Europäische Parlament hat die Themen aufgegriffen. Die IG BCE steht mit den Berichterstatter*innen für die Themen Rahmenrichtlinie und Überarbeitung der EBR-Richtlinie im Austausch.
Begleitung Rechtsverfahren (SAP und TUI)
Im Jahr 2020 war erstmalig die Berücksichtigung der Gewerkschaftsrechte bei der Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE) Gegenstand einer höchstrichterlichen Entscheidung. Im Kern ging es bei der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) um Folgendes: Muss die im Rahmen des Beteiligungsverfahrens mit den Beschäftigten erzielte SE-Beteiligungsvereinbarung in einem Aufsichtsrat für die Gewerkschaften garantierte Sitze vorhalten? Bei der Gründung einer SE muss ein Beteiligungsverfahren durchgeführt werden, um die Rechte der Belegschaftsvertretungen für diese europaweite Gesellschaft einheitlich sicherzustellen.
Im Vorfeld zur BAG-Entscheidung hat die IG BCE in Zusammenarbeit mit der HBS und dem DGB den Fall wissenschaftlich begleitet und die Auffassung der Gewerkschaften in der juristischen Fachliteratur publiziert. Das BAG hat sich dann entschieden, die folgende Rechtsfrage dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen: Welche Rechte der mitbestimmten Aufsichtsräte sollen durch die SE-Richtlinie geschützt sein? Um hier auch weiterhin die Rechtsauffassung der IG BCE zu verbreiten, ist erneut mit der HBS und dem DGB eine Taskforce eingerichtet worden.